Blitzlicht

Ich hatte meinen Kontrollgang durch das gesamte Gebäude gerade fast abgeschlossen.
Selbstverständlich war alles makellos, die strahlend weißen Wände funkelten praktisch, die hellgrauen Mamorböden glänzten und reflektierten das Licht der großen, hellen Lampen über mir.
Über uns.
Meine Schritte hallten durch den Korridor. Hinter mir halten die Schritte meines Anderen. Sie waren immer ein wenig asynchron, wie ein Echo.
Es irritierte mich, doch ich drehte mich nicht um, schenkte ihm keine Beachtung.
Ich hielt an.
Klack. Klack. Ertönten seine Schritte hinter mir bevor er ebenfalls still stand.
Vor uns ragte ein großes Tor aus Metall. weiß bemahlt und mit hellen Ornamenten aus poliertem Gold bestückt.
Ich hob die Hand, woraufhin sich die schweren Türen lautlos öffneten.
Hinter mir glaubte ich, die Atemzüge meines Anderen zu hören, zart wie Blütenblätter. Dabei stand er recht weit von mir entfernt, ein Meter und 44,6 Zentimeter.
Ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, trat ich in die große Halle vor uns und er folgte.
Auch hier waren die Wände weiß und und die Böden hellgrau. Die Welt hinter den hohen Fenstern war dunkel und mit grellen Neontönen befleckt. Über uns hing ein Kronleuchter, bestückt mit bunten Kristallen, welche die helle Umgebung schillern ließen.
Ich hielt genau in der Mitte des Saals an, er tat es mir gleich. Dieses Mal hielt er einen Meter und 52,3Zentimeter Anstand.
Ich wandte mich zu ihm, betrachtete ihn für zwei Minuten, 17 Sekunden.
"Komm' näher."
Er trat zwei Schritte vorwärts. 96,4 Zentimeter.
"Komm' näher."
Wieder trat er zwei Schritte vorwärts. 55,5 Zentimeter
Sein Blick war leer, er sah mir nicht in die Augen, sondern starrte gerade voraus, durch mich hindurch.
"Gut", sagte ich während ich einen dünnen Bildschirm aus einer Tasche in meinen hellen Roben zog, elf Zoll.
Draußen lief alles glatt.
Einige Gebäude sind von Rebellen beschädigt worden, ansonsten war alles so, wie es sein sollte.
Mit fünf sauberen Bewegungen meines Fingers gab ich die Signale, dass die Schäden repariert werden und diese Rebellen in Haft genommen werden sollten.
Ich steckte den Bildschirm wieder weg.
Für sieben Minuten, 43 Sekunden stand ich mit ihm, meinem Anderen, in der großen, leeren Halle.
Ich zupfte mir die Roben zurecht, lockere weiße Kleidung mit goldenen Details.
Ein Teil von mir wollte den Kontrollgang wiederholen, doch ich ließ mich nicht darauf ein. Diesen Rundgang hatte ich ursprünglich einmal wöchentlich. Dann zweimal, dreimal, bis er schließlich Teil meiner täglichen Routine wurde.
Das war eine Verschwendung meiner Zeit, das wusste ich. Doch ich war im moment nicht allzu beschäftigt und dieses seltsame 'Kratzen' am Rande meines Bewusstseins ließ mir nur Ruhe, wenn ich in Bewegung war.
Ich betrachtete meinen Anderen noch einmmal.
Die hellen Roben, die er trug, waren den meinen ähnlich, nur hatte sein Umhang einen hohen Kragen, der die untere Hälfte seines Gesichts versteckte. Außerdem war seine Kleidung farbiger, die Details waren in denselben Farben zarten Pastelltönen gehalten, die jeden Raum im Gebäude erleuchteten.
Die Roben, sowie die Räume könnten — sollten — ein reines, strahlendes weiß sein und nicht mehr. Doch sie waren immer noch hell und die Farben waren nicht intrusiv, also konnte ich es tolerieren.
Nach einem Augenblick, in dem ich ihn bloß anstarrte, befahl ich: "Komm' näher."
Ein Schritt vorwärts. 37,9 Zentimeter.
"15 Zentimeter Abstand."
Er gehorchte. Seine Schritte waren dabei klein, aber nicht unbeholfen. 15,2 Zentimeter.
"Gut. Sieh' mir in die Augen."
Er drehte seinen Kopf nach oben. Die Bewegung war geschmeidig, präzise.
Seine dunklen Augen waren leer und blicklos.
Ich öffnete meinen Mund um etwas zu sagen bevor ich...
zögerte.
Dann wanderten meine Hände zu seinem Kragen, schoben den Stoff beiseite um seinen Mund zu offenbaren. Mit einer raschen Bewegung zog ich den hellen Umhang runter, die erste Schicht, ließ ihn einfach auf den Boden fallen.
Die Kleidung gefiel ihm nicht — noch nicht —, das wusste ich. Bis er seine Einstellung also änderte, würde ich sie entfernen, Schicht für Schicht.
Unter den Roben, die ich für ihn ausgewählt hatte, trug er sein ausgewaschenes, schimmelgrünes Nachtgewand. Dasselbe, dass er getragen hat, als ich ihn zu mir genommen hatte.
Er... hing daran.
Ich strich ihm einige seiner dunklen Haarsträhnen aus dem blassen Gesicht und nahm meine Hand kurz darauf wieder weg.
"Ich werde dich jetzt erlösen, versprich' mir, dass du dich benimmst", sagte ich. Er antwortete nicht, er konnte nicht. Aber er konnte mich hören, das wusste ich.
Ich schnippte mit den Fingern.
Die Augen meines Anderen weiteten sich und er schnappte scharf nach Luft. Er sank auf die knie, woraufhin ich einen Schritt nach hinten trat. Zitternd kniete er vor mir auf Händen und Füßen.
Für einen Moment starrte ich bloß auf ihn hinunter.
"Steh' auf", befahl ich dann. Doch er gehorchte mir nicht. Er machte keine Anstalten, sich zu bewegten.
Das irritierte mich, doch ich ließ mir nichts anmerken.
"Du darfst mich um eine Sache bitten; was auch immer du willst, ich werde es dir geben."
Das war eine Lüge. Was mein Andere wollte — was er wirklich wollte — würde ich ihm nicht geben können. Niemals.
Er schaute zu mir hoch, die dunklen Augen voller Verwirrung.
Draußen erklang lautes Donnern gefolgt von einem Blitz, der die Fenster aufleuchten ließ.
Sein Blick fiel sofort hinter mich und ich legte den Kopf leicht schief, nur für einen Moment.
Ich zog mir einen weißen Handschuh von der linken Hand und hielt sie ihm hin.
"Wenn ich dich nach draußen nehme, kannst du mich um nichts mehr bitten."
Er zögerte, nur für einen Augenblick, nickte aber dann.
Meine Hand nahm er nicht an, stattdessen versuchte er, alleine auszustehen. Seine Beine zitterten.
Hätte ich ihn nicht ausgefagen, wäre er wieder zu Boden gefallen.
Er starrte mich an, legte eine blasse, knochige Hand auf eine von meinen, die ihn den Schultern packte.
"Bleib' stehen", sagte ich zwei Minuten, zwei Sekunden und ließ ihn los. Er gehorchte mir, schwankte nur ein kleines bisschen.
"Gut."
Damit nahm ich ihn an der Hand und zog ihn erneut durch das Gebäude.
Seine Haut war kalt, die Knochen darunter schienen mechanisch, wie die Gelenke eines Roboters. Und er war so gehorsam wenn er in meiner Macht stand, man konnte ihn fast mit einem verwechseln.
Doch in seinem erlösten Zustand war er so... menschlich.
Wo seine Schritte vorhin asynchron waren, waren sie jetzt verwirrt, völlig unsinnig. Es war jedes Mal aufs Neue unerwartet, wie er sich bewegte, wie er reagierte.
Ich festigte meinen Griff um seine Hand. Ohne meinen Handschuh konnte ich spüren, wie dreckig seine haut war, die Bakterien, die sie bedeckten.
Wir stiegen die Treppen hinauf zu dach. Selbstverständlich gab es hier Aufzüge, aber ich... musste die nicht benutzen, da ich es nicht eilig hatte und mich das Hinaufsteigen nicht ermüdete.
Ich lockerte meinen Griff wieder als wir durch eine schlichte weiße Schiebetür auf das flache Dach traten.
Es hatte angefangen zu regnen während wir hinaufgestiegen sind und mein Anderer streckte seine Hand nach vorne, um die Tropfen zu... fühlen.
Dann löste er sich von mir, trat einige Schritte vorwärts in den Regen, während ich wortlos im Türrahmen stehen blieb.
Er sah sich um, starrte hinauf.
Der Himmel war eine einzige tiefschwarze Massen, nur gelegentliche Blitze unterbrachen sie, offenbarten die Texturen der Wolken. Die Stadt unter uns war von grellen Neolichtern erleuchtet. Sie war noch fehlerhaft, das wusste ich, aber ich konnte damit arbeiten.
Mein Anderer näherte sich dem Rande des Dachs und blieb ungefähr einen Meter davor stehen.
Sein Nachtgewand war völlig durchnässt.
'Ich hätte ihm die Roben nicht ausziehen sollen', dachte ich während ich von der Tür wegschritt und ihm näher kam.
Als ich neben ihm stand, sah ich, dass er lächelte, kicherte.
Seine Ärmel hatte er hochgekrempelt. Regentropfen rollten an seiner nackten Haut hinab.
Ich wandte meinen Blick von ihm ab, konnte mich aber nicht davon abhalten, ihn noch aus dem Augenwinkel u betrachten.
Seine Augen... glänzten. Wie poliertes Silber.
Das überraschte mich, doch ich ließ mir nichts anmerken.
So stand ich völlig still neben meinem Anderen während er lächelte und mit den Händen Regentropfen auffing.
Es schien so sinnlos, ich konnte mir nicht erklären, warum er sich so verhielt, doch ich sagte nicht.
Ich nahm meinen weißen Umhang ab und legte ihn um seine Schultern.
Er zuckte zusammen, ließ sofort die Arme sinken. Dann erstarrte er. meine Finger krallten sich in seine dürren Schultern.
Dann zog ich ihndicht an mich, sein Rücken gegen meine Brust gedrückz.
Er senkte den Kopf und bgeann wieder zu zittern.
Ich wusste nicht, warum ich das tat. Ich war mir meiner Aktionen vollkommen bewusst, doch sie hatten keinen Zweck, ergaben keinen Sinn.
Sein Herzschlag beschleunigte sich während ich meine Arme locker um seinen Hals legte.
Das war Furcht. Das war die Macht, die ich über meinen Anderen hatte.
Ich packte sein Kinn und zwang ihn, zu mir aufzuschauen. In diesem Zustand war er so klein, so fragil.
Er blinzelte mich an. Sein Gesicht war ganz nass, dunkle Haarsträhnenklebten an siner Stirn.
Ich versteifte mich noch mehr. Meine Hand wanderte von seinem Kinn und Kiefer zu seinem Hals.
Sein Abend stockte und seine Augen weiteten sich, nur ein bisschen.
Mein Anderer, er war so... so...
Ein Blitz schlug mit lautem krach neben dem Gebäude ein und sein Kopf schnellte erschrocken wieder nach vorne.
Die Bewegung war ruckartig, unpräzise. das war ich nicht gewohnt. Ich ließ mir jedoch nichts anmerken und drückte ihn bloß fester an mich.
Er war nunmal nicht wie ich.
Er war alles, was ich nicht war; ungeschickt, widersinnig, erärmlich, ein Meisterstück.
So war ich alles, war er nicht war; makellos, perfekt, unerbittlch, ein Fehler.
Mein Andere legte seine zittrigen Hände aus meine Oberarme, krallte sich in den weißen Stoff.
"Alles was ich tue, tue ich für dich."
Die Worte waren leise, kaum hörbar inmitten des Sturms.
Wir standen zusammen im Regen für einige Stunden, bis er schließlich aufhörte und ich ihn, meinen Anderen, wieder hinenführte.